venezianische Schule: Polyphone Tradition und frühbarocke Klanglichkeit

venezianische Schule: Polyphone Tradition und frühbarocke Klanglichkeit
venezianische Schule: Polyphone Tradition und frühbarocke Klanglichkeit
 
Die »venezianische Schule« nimmt in der Musikgeschichte der Renaissance eine Sonderstellung ein. Ihr Stil löst sich allmählich vom linearen polyphonen Satz der frankoflämischen Schule und bildet ihn um im Dienste einer neuen, klangorientierten Expressivität. In der Geschichte des Hörens zeigt sich darin eine bedeutsame Wandlung, eine musikalische Einstellung, die sich von nun an stärker auf das vertikale akkordische Geschehen richtet. Begünstigt wurde das stilistisch Neue durch die kulturellen Ansprüche einer breiten Patrizierschicht der Republik, geprägt aber vor allem von einer größeren Gruppe hervorragender Komponisten, die den venezianischen Stil über mehrere Generationen hin entfalteten und Venedig im 16. Jahrhundert zu einem führenden musikalischen Zentrum in Europa machten.
 
Eine kaum zu überschätzende Rolle spielte hierbei die neue Technik des Notendrucks, die der Verbreitung von Musik völlig neue Möglichkeiten erschloss. Ottaviano Petrucci veröffentlichte 1501 in Venedig das erste Druckwerk mehrstimmiger Musik mit beweglichen Notentypen, eine Sammlung französischer Chansons. Messen- und Motettendrucke folgten, darunter 1502 der erste Individualdruck mit Messen von Josquin Desprez, ferner Drucke italienischer Volksmusik (Frottolen und Lauden) und Lautentabulaturen, beginnend mit Francesco Spinacinos »Intabulatura de lauto« (zwei Bücher, 1507). Venedig wurde die Stadt mit der umfangreichsten Notenproduktion, und viele berühmte Komponisten aus Italien und anderen Ländern veröffentlichten hier ihre Werke.
 
Diese überregionale Anziehungskraft und der Austausch mit auswärtigen Musikern belebte auch das eigene städtische Musikleben, dessen Zentrum der Dom San Marco bildete. Weitere wichtige Impulse gingen von den öffentlichen Festlichkeiten, etwa der Einführung des Dogen, von den großen Prozessionen und den vielfältigen Veranstaltungen der gehobenen Gesellschaft aus.
 
Für die Musik an San Marco begann 1527 mit der Berufung Adrian Willaerts zum Domkapellmeister eine neue Ära. Willaert, zwischen 1480 und 1490 (wahrscheinlich in Brügge) geboren, galt durch sein Wirken in Ferrara (etwa ab 1522) und Mailand (etwa ab 1525) bereits als einer der renommiertesten frankoflämischen Komponisten. Er blieb bis zu seinem Tod 1562 in Venedig und beeinflusste über seine Schüler und Nachfolger, aber auch über Komponisten außerhalb Venedigs, die mit ihm in Kontakt traten, nachhaltig die europäische Musik bis ins 17. Jahrhundert hinein. Willaert schrieb in erster Linie Motetten, in denen sich traditionelle Polyphonie und intensive Ausdruckshaltung verbinden, ferner Messen und weltliche Vokalmusik, französische Chansons, italienische Madrigale und »Canzone villanesche alla napolitana« (1545), die volkstümliche Melodik und Satztechniken verarbeiten. Besonders berühmt geworden sind Willaerts doppelchörige Psalmvertonungen, »Salmi spezzati« (1550), mit ihrem Wechsel und Ineinandergreifen zweier vierstimmiger Chorgruppen. Doppelchörigkeit dieser Art war nichts völlig Neues, keine »Erfindung« Willaerts im eigentlichen Sinne. Ähnliches kam auch in Werken anderer oberitalienischer Komponisten vor und war zudem nur ein Sonderfall von Choraufteilung (hohe Stimmen/tiefe Stimmen, Zweistimmigkeit/ganzer Chor) in frankoflämischen Messen und Motetten. Das Besondere der doppelchörigen Psalmen Willaerts ergibt sich aus ihrer geschichtlichen Wirkung, die von seinem Schüler Gioseffo Zarlino wesentlich initiiert wurde. Zarlinowar von 1565 bis 1590 Kapellmeister an San Marco und als Musiktheoretiker die maßgebliche Autorität der Zeit. In seinem grundlegenden Lehrwerk »Le istitutioni harmoniche« (1558) beschrieb er die Anlage der Psalmen als »Cori spezzati«, als modellhafte Kompositionstechnik zweier räumlich getrennter vierstimmiger Chöre. Dadurch wurden sie zum Vorbild einer klangorientierten, mehrchörigen Setzweise, die Willaerts Anregungen erweiterte, radikalisierte und zum bewunderten Stilmerkmal der venezianischen Schule machte.
 
Kompositorisch war dies in der Hauptsache das Verdienst des Venezianers Andrea Gabrieli. 1510 geboren, ab 1536 Kapellsänger an San Marco, war er zunächst eine Zeit lang in Verona und ab 1564 bis zu seinem Tod 1586 wieder in Venedig als Domorganist tätig. In seinen »Concerti« (1587 veröffentlicht) verwirklicht sich ein flächig architektonischer Stil mit farbigen Klangwechseln, bei denen die einzelne Stimme als Linie zurücktritt. Begünstigt durch die gegenüberliegenden Emporen im Markusdom und die Aufstellung der Chöre an verschiedenen Stellen der Kirche, erzielten diese akkordischen Gruppenkompositionen eine durchaus neuartige, barocke Raumklangwirkung.
 
Weiterentwickelt und zum Höhepunkt geführt wurde die Mehrchörigkeit durch den Neffen Andrea Gabrielis, Giovanni Gabrieli, der zwischen 1554 und 1557 in Venedig geboren wurde und 1612 oder 1613 dort starb. Auch er war, nach einigen Jahren in München, wo Orlando di Lasso die Kapelle leitete, Organist an San Marco (ab 1585). Giovanni Gabrieli steigerte die Klangwirkung bis zur Verwendung von fünf Chören, die, vokal oder instrumental (auch gemischt), solistisch oder mehrfach besetzt, allein oder mit anderen Gruppen bis hin zum vollen Tutti, eine reiche Skala an Farben und Kontrasten ermöglichten.
 
Aus dem vokal und instrumental gemischten Gruppenmusizieren ergaben sich von selbst Anregungen zu selbstständigen instrumentalen Formen. Daher tritt in Venedig die instrumentale Ensemblemusik erstmals annähernd gleichwertig neben die Vokalmusik. Neue Gattungen wie »Canzona« und »Sonata«, vielstimmig und reich gegliedert in Teile unterschiedlicher Struktur, setzen nun auch ein hohes Maß an instrumentaler Kunst und Erfahrung im Zusammenspiel voraus.
 
Schließlich wurde Venedig durch eine Reihe vorzüglicher Organisten wie Annibale Padovano, Girolamo Parabosco, Claudio Merulo, Andrea und Giovanni Gabrieli im 16. Jahrhundert zu einem Zentrum italienischer Orgelmusik. Orgelmessen, motettisch imitatorische Ricercari und Fantasien sowie frei schweifende Toccaten bieten hierfür die kunstvollsten Belege. Auch in ihnen dokumentiert sich die neue instrumentale Eigenständigkeit und Ausdruckskraft, eine seitdem nie mehr versiegende Quelle musikalischer Erfindung und ein geschichtliches Erbe, das die Renaissance - neben dem Stilideal vokaler Polyphonie - aller Folgezeit vermittelte.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Braun, Werner: Der Stilwandel in der Musik um 1600. Darmstadt 1982.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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